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Präzisionswerkzeuge 5. Juli 2023

„Bei der Hauptzeit sind wir jetzt 50 Prozent schneller“

Voith Turbo setzt bei der Getriebe- und Retarderbearbeitung den Emuge PunchDrill ein. Mit dem 2-schneidigen Hochvorschubbohrer werden prozesssicher doppelte Vorschubwerte gefahren.

Der im Schrumpffutter gespannte 2-schneidige PunchDrill als Stufenbohrer mit den Durchmessern 8,5 und 11 mm.
Der im Schrumpffutter gespannte 2-schneidige PunchDrill als Stufenbohrer mit den Durchmessern 8,5 und 11 mm.

Es gibt wohl nur sehr wenige Technologiekonzerne, die weltweit in ganz unterschiedlichen Märkten aktiv sind und die sich seit weit über 150 Jahren in Familienbesitz befinden. Die Rede ist von Voith mit Stammsitz in Heidenheim, nördlich von Ulm. Mit zahlreichen Produktionsstandorten und Niederlassungen werden Kunden aus den Märkten Energie, Papier, Rohstoffe, Transport sowie Automotive bedient. Um diese zahlreichen Aktivitäten zu strukturieren, ist Voith in drei Konzernbereiche gegliedert: Hydro, Paper und Turbo. Während Voith Hydro als Komplettanbieter weltweit Wasserkraftwerke aller Größenordnungen mit Technik ausrüstet und Voith Paper international zu den größten Systemlieferanten für die Papierindustrie zählt, beliefert Voith Turbo mit einem breiten Spektrum an mechanisch, hydraulisch, hydrodynamisch sowie elektrisch arbeitenden Antriebs- und Bremssystemen ganz unterschiedliche Branchen. Zu den Einsatzgebieten zählen Rohstoffförderung sowie -verarbeitung und klassische Industrieanwendungen ebenso wie Wasser-, Schienen- und Nutzfahrzeuge. Bei den hydrodynamischen Getrieben gilt Voith Turbo als Weltmarktführer. Ein wichtiger Fertigungsstandort ist Garching bei München.

In der spanenden Fertigung werden in Garching unter anderem die Gehäuse für Bus-Automatikgetriebe sowie für die Voith-Retarder bearbeitet. Dies sind für den Dauerbetrieb ausgelegte, hydrodynamisch und somit verschleißfrei arbeitende Bremsen. Retarder unterstützen bei Nutzfahrzeugen wie Lkw oder Bussen die normale Betriebsbremse oder übernehmen in den meisten Fällen das Bremsen sogar ganz. Dies schont die Betriebsbremse, schützt diese vor Überlastung und erhöht so die Sicherheit.

Mehrere Retarder-Gehäuse pro Tag

„Die Retarder-Gehäuse bearbeiten wir hier aktuell auf zwei Horizontal-Bearbeitungszentren“, beschreibt Steffen Seifert aus der Abteilung NC-Programmierung in Garching. Die Größe dieser Gehäuse beträgt 350 mm x 300 mm x 250 mm bei einem Gewicht von rund 12 kg. Kurze Taktzeiten spielen bei der Bearbeitung eine ebenso große Rolle wie die Prozesssicherheit und eine stets gleichbleibend hohe Bearbeitungsqualität. Und da sich die Technologien ständig weiterentwickeln, scanne man ständig den Markt nach neuen Lösungen ab, um so die Prozesse weiter optimieren zu können, sagt NC-Spezialist Seifert, der zusammen mit seinen Kollegen aus der CAM-Abteilung auch das Toolmanagement verantwortet. „Eine der wichtigsten Stellschrauben sind dabei die Werkzeuge.“

Ein Beispiel, wo eine Werkzeugneuentwicklung einen gewaltigen Geschwindigkeitsschub bei der Bearbeitung der Retarder-Gehäuse ausgelöst hätte, sei ein Teil der Bohrbearbeitung. Dabei geht es um das Bohren von Kernlöchern für Gewinde M10, also 8,5 mm mit angrenzender Fase. Außerdem um 7 bis 10 mm tiefe Bohrungen mit Durchmesser 11 mm und einer sich anschließenden Bohrung mit 8,5 mm Durchmesser zur Aufnahme von Führungsstiften. Hergestellt werden in der ersten Aufspannung zehn Bohrungen und in der zweiten 21 − sowohl als Sackloch- wie auch als Durchgangsbohrungen. Diese werden zum Beispiel für die Verschraubungen des Deckels oder für die Anflanschung des Wärmetauschers benötigt. „Wir bohren teilweise zwei Durchmesser oder auch nur Sacklöcher mit Fase“, fasst Seifert die Situation zusammen. „Also ganz unterschiedliche Bearbeitungen mit ein und demselben Werkzeug.“ Bisher übernahm diese Aufgaben ein normaler Stufenbohrer aus Vollhartmetall.

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Bei Voith bezieht man die Werkzeuge von verschiedenen Lieferanten, zu denen schon seit sehr vielen Jahren der fränkische Hersteller Emuge-Franken zählt. So auch die Werkzeuge zur Gewindeherstellung bei den Retarder-Gehäusen. „Ich hatte im Internet mit großem Interesse gelesen, dass Emuge dabei ist, unter dem Namen PunchDrill einen neuartigen 2-schneidigen Hochvorschubbohrer für Aluminium-Gusslegierungen auf den Markt zu bringen“, erinnert sich Seifert. „Im Vergleich zu konventionellen Werkzeugen sollten damit doppelte Vorschubwerte möglich sein, und dies bei vergleichbarer Werkzeugstandzeit.“

Seifert sprach Armin Kusch darauf an, der als Außendienstmitarbeiter von Emuge-Franken Voith in Garching betreut. Und Kusch versprach, den PunchDrill als Stufenbohrer anfertigen zu lassen und für Versuchszwecke mitzubringen. Denn der im Nenndurchmesser-Bereich von 2,5 bis 20 mm bei Bohrtiefen von 10 x D erhältliche neue Hochvorschubbohrer wird zur Zeit ausschließlich nach Kundenvorgaben als Sonderwerkzeug hergestellt und befindet sich noch in der finalen Markteinführungsphase, in der die Anwendung beim Kunden noch engmaschig beobachtet wird. In diesem Fall handelte es sich um die Maße des bisherigen VHM-Stufenbohrers mit D 8,5 mm, D 11 mm sowie 12 mm Schaftdurchmesser.

Weniger Axialkraft, verbesserter Spanbruch

Hochvorschubbohrer gibt es ja bereits am Markt, wenn auch vorwiegend mit mehr als zwei Schneiden. Was ist nun das Besondere beim PunchDrill? „Wir bohren im Vergleich zu normalen VHM-Werkzeugen beim PunchDrill mit dem doppelten Vorschub, obwohl die auftretende Axialkraft gleich bleibt“, erläutert Thomas Funk vom technischen Büro bei Emuge das Alleinstellungsmerkmal. Wenn man den neuen Bohrer mit dem bisherigen Vorschub einsetzt, würde sich die Axialkraft sogar halbieren. „Das schont die Maschine und spart Energiekosten, da die Leistungsaufnahme sinkt.“ Auch würden sich so labile Teile oder schlecht zu spannende Werkstücke problemloser fertigen lassen.

Der Ingenieur war bei der Entwicklung des PunchDrill von Anfang an dabei und kennt somit auch die Hintergründe seiner Entstehung. Denn der PunchDrill wurde quasi parallel mit dem Emuge Taptor entwickelt, ein in Zusammenarbeit mit Audi entwickeltes Werkzeug, mit dem ein Gewinde ohne vorheriges Bohren direkt im Vollen erzeugt werden kann. Um einen sicheren Prozess zu gewährleisten, war eine der Herausforderungen bei der Entwicklungsarbeit, dafür zu sorgen, dass die Späne die Bohrung absolut sicher verlassen können. „Das haben wir durch eine innovative Geometrie der Stirn erreicht“, erklärt Funk. „Der von uns speziell dafür entwickelte Spanteiler gewährleistet, dass die abgetragenen Späne besonders kurz sind und stets die gleiche Form haben.“ Dieser innovativ geformte Spanteiler hilft zusammen mit den großen Freiwinkeln an der Bohrerspitze auch dabei, die Bearbeitungskräfte zu kontrollieren und gering zu halten. „Durch den Spanteiler ist die Hauptschneide quasi getrennt. Deshalb kommen wir beim PunchDrill auch mit nur zwei Schneiden aus.“

Hinzu kämen neu entwickelte Oberflächenbehandlungen sowie eine spezielle Beschichtung, die genau für das Bearbeiten von Aluminium-Gusslegierungen mit mindestens 7% Siliziumanteil sowie von Magnesiumlegierungen ausgelegt sei. In der Summe sorge dies für eine sichere Spanabfuhr, was sehr wichtig sei, so Funk. „Auf diese Weise erreichen wir eine hohe Standzeit, Prozesssicherheit und somit auch eine hohe Wirtschaftlichkeit des Werkzeugs.“

Wichtig: Filtrierung des Kühlschmierstoffs

Entwicklungsingenieur Funk weist in diesem Zusammenhang auf einen weiteren wichtigen Aspekt hin, nämlich auf das Thema Schmierung und Kühlung. Der PunchDrill verfügt über eine innere Kühlmittelzufuhr. Diese besteht aus zwei gewendelten Kanälen mit Austrittsöffnungen direkt an der Bohrerspitze. „Das Kühlmittel gelangt also direkt dorthin, wo es benötigt wird.“ Prinzipiell sei beim PunchDrill auch Minimalmengenschmierung möglich, er empfehle aber die Verwendung von kontinuierlich gefiltertem Kühlschmierstoff. Das Phänomen, dass Kühlschmierstoff, dessen Partikel im laufenden Betrieb bis in den µ-Bereich herausfiltriert werden, sich sehr günstig auf den Fertigungsprozess und das Bearbeitungsergebnis auswirken, ist bei Voith ohnehin bekannt. „Darum haben wir neben den Bearbeitungszentren – so auch bei unseren Heller MC20 – spezielle Filteranlagen des Herstellers IDV Engineering installiert“, erklärt Werkzeugspezialist Seifert. Ein Bypass-Patronenfilter filtert bei diesem System alle Späne und andere Partikel, die größer als 20 µm sind, aus dem Kühlschmierstoff heraus. Dies geschieht auch beim PunchDrill, wobei der Kühlmitteldruck des Vorgängerwerkzeugs beibehalten wurde. Benötigt würde ein Innenhochdruck von mindestens 50 bar zusammen mit der feinen Filtrierung. „Denn auch die kleinsten Partikel verursachen Störungen im Kühlkanal des Bohrers, was bei diesen hohen Vorschubwerten sofort zu Hitze- und Verbrennungsschäden am Werkstück führen würde.“

Test mit Bravour bestanden

Wurden die von Funk beschriebenen Vorteile beim Bohren der Retarder-Gehäuse nun bestätigt? Das Vorgängerwerkzeug lief in Garching mit einer Drehzahl von 15.500 min-1 und damit 500 min-1 unter der maximalen Spindeldrehzahl, um die Maschine zu schonen. Der Umdrehungsvorschub belief sich auf etwas über 0,3 mm/U. „Wir haben beim ersten Test des neuen Bohrers dann sofort gesagt, wir verdoppeln bei gleicher Drehzahl den Umdrehungsvorschub auf 0,65 mm/U und schauen, ob der PunchDrill das safe schafft“, erläutert Seifert die Schritte beim Umstieg. Das NC-Programm blieb ansonsten gleich, da auch beim PunchDrill der ganz normale Bohrzyklus der CNC verwendet wird.

Die neuen Schnittdaten absolvierte der PunchDrill mit Bravour. Die Hauptzeit pro Bohrung hatte sich tatsächlich um etwa 50 % reduziert. Und die Standzeit? „Wir hatten die Standzeit aus Gründen der Prozesssicherheit gegenüber dem Vorgängerwerkzeug zunächst halbiert, den Standweg damit aber gleich gelassen, weil der PunchDrill schneller ist“, sagt Seifert. Gemeint ist nicht der Ist-Verschleiß des Bohrers, sondern der Zeitpunkt, an dem im Prozess das Werkzeug aus Sicherheitsgründen prophylaktisch gewechselt wird. „Denn wir wollen auf keinen Fall Werkzeugbrüche riskieren.“

Beim Ermitteln der Standzeit mutiger geworden

Inzwischen wurde der Umdrehungsvorschub auf 0,8 mm/U erhöht. Die Hauptzeit hätte sich so − je nach Bohrloch − im Schnitt auf etwa 0,4 s reduziert. „Auch beim Ermitteln der Standzeit sind wir mutiger geworden und lassen den PunchDrill aktuell um 30 % länger laufen, was einer Standzeit von etwa 900 min und einem Standweg von rund 4.500 m entspricht“, erklärt Seifert.

Bisher gab es nur einen Nachschliff. Dabei wurde bei Emuge auch das Verschleißbild genau untersucht. „Das Ergebnis soll aber noch besprochen werden“, sagt Außendienstler Kusch, der die Versuche mit dem PunchDrill intensiv mitbegleitet hatte. Ob dieser gegenüber dem Vorgängerwerkzeug sogar den doppelten Standweg ohne Verschleiß durchhält, wisse man noch nicht. Dazu Seifert: „Wir befinden uns ja zusammen mit Emuge immer noch in der Versuchsphase.“ Vorläufiges Ziel ist ein Standweg von 6.000 m. Doch selbst mit dem bisher Erreichten sei er mehr als zufrieden. Die Frage nach dem Wow-Effekt beantwortet er so: „Bereits der doppelte Vorschub und damit die Halbierung der Hauptzeit ist mehr als wow. Das muss man erst mal schaffen.“ Die Vorteile hätten jetzt schon so überzeugt, das geplant sei, den PunchDrill auch für andere Durchmesser und bei weiteren Gehäusetypen einzusetzen.

rk

 

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