Foto: Harald Klieber

Welt der Späne

Vibrationsbohren schafft Stahl, Titan und 60xD

Bohren bis 60xD? Standardmaschinen und Werkzeuge brauchen dafür bestimmt gut 10 Minuten. Wie es schneller und besser geht, zeigt das IWT mit Vibrationsbohren.

Neue Materialien sind auf dem Vormarsch. Beim Bohren sollen keine Wendelspäne mehr entstehen. Kurze, berechenbare, abtransportierbare Späne sind der Traum. „Das Geheimnis oder vielmehr der Schlüssel für eine neue Dimension des Bohrens ist die Spindel“, skizziert Prof. Bernhard Karpuschewski, Direktor der Hauptabteilung Fertigungstechnik am IWT, den Lösungsansatz für das Bohren. Seit 2015 forscht das Leibniz-Institut für Werkstofforientierte Technologie in Bremen an einer besonders leistungsfähigen Kombination von Bearbeitungszentrum und Werkzeug, um künftig bis 60xD tief und möglichst schnell in Titan & Co. bohren zu können.

Motorspindel, zwei Werkzeugpartner und ein MMS-System

Zwei Doktoranten hatten dazu bereits promoviert und sind inzwischen bei den Industriepartnern Ceratizit und Mapal unter Vertrag. „Die Forschung ist aber längst nicht beendet. Wir haben jetzt mit der vierten Generation der magnetisch gelagerten Spindel der Keba Group AG ein sehr stabiles Bohrkonzept erarbeitet – im nächsten Schritt planen wir aber noch, die Werkzeuge simulativ und geometrisch zu verfeinern“, betont Bernhard Karpuschewski. Möglich wird das, weil gegenüber der im Versuchsfeld installierten DMU 80 E seit kurzem eine brandneue 335-linear-Werkzeugschleifmaschine der Firma Schütte installiert wurde. „Mit der neuen Schütte-Werkzeugschleifmaschine kann nun die Werkzeuggeometrie speziell auf den Prozess und die verschiedenen Materialien perfekt abgestimmt werden“, versichert IWT-Technologe Eckhard Berthold.

Foto: Harald Klieber Mit der neuen Schütte-Werkzeugschleifmaschine 335 linear ist sich das IWT-Team sicher, mit optimierten Werkzeuggeometrien noch viel bessere Werte beim Vibrationsbohren zu erzielen: v.li. Eckhard Berthold, Bernhard Karpuschewski, Lukas Schumski, Jens Sölter und Stefanie Meyerling, Technische Mitarbeiterin und Verantwortliche der Schütte-Werkzeugschleifmaschine.
Foto: Harald Klieber Bevor es aber in die Praxis ging, wartete die Theorie: Wichtige Erkenntnisse sammelte das IWT bereits mit der Prozesssimulationssoftware von Abaqus.
Foto: Harald Klieber „Mit der Vibrationsspindel können wir die Späne quasi designen, also fast nach Belieben definiert brechen lassen.“ Das wird schon in der Simulation deutlich, berichtet Lukas Schumski.
Foto: Harald Klieber Span- und Spindelbewegung lassen sich so schön darstellen.
Foto: Harald Klieber Und spätestens beim reellen Bohren in nur einem Zug auf bis zu 60xD werden die Späne direkt auf dem Maschinentisch sichtbar.
Foto: Harald Klieber Die Software ist übrigens von Abaqus.

Luftspalte von ± 150 µm – Oberflächen perfekt glätten

Highlight bleibt aber die neue Bohrspindel von Keba, die horizontal auf der DMU 80 E installiert wurde. „Unserer Kenntnis nach, ist die Spindel-Performance momentan einmalig – weltweit“, betont Bernhard Karpuschewski. Einmalig sei vor allem die aktive Ansteuerung der magnetischen Lager. „Das Wellenspiel der neuen Levi-Spin-R140 kann axial nun bis zu ± 150 µm und radial ± 120 µm betragen.“ Das Geniale daran ist, das man durch die elektromagnetische Lagerung tatsächlich sehr definiert Vibrationen erzeugen kann, die wiederum Späne sehr definiert brechen und sogar radial Bohrungsoberflächen perfekt glätten, erklärt Dr.-Ing. Jens Sölter, Manager of Cutting and Mechanical Surface Treatment Department, die technologischen Ziele.

Späne nach Belieben designen und brechen lassen

Abrufbar sind bis zu 18.000 1/min und ein Drehmoment von 15 Nm. „Das ist mehr als genug für Bohrergrößen zwischen 1 und 12 mm Durchmesser.“ Entscheidend, so Lukas Schumski, Wissenschaftlicher Mitarbeiter, sei aber auch das von HPM installierte Minimalmengenschmiersystem, bei dem der Luftsprühinjektor des Typs Breeze LSJ Z30 für die nötige Schmierung und den Spänetransport sorgt. „Ohne die Spindel hätten wir aber nur lange Wendelspäne. Mit der Vibrationsspindel können wir die Späne quasi designen, also fast nach Belieben definiert brechen lassen.“ Das wird schon in der Simulation deutlich und spätestens beim Bohren in nur einem Zug auf bis zu 60xD direkt auf dem Maschinentisch sichtbar, berichtet Lukas Schumski.

„Der Span bricht quasi freiwillig“

„Das Ganze sieht hier so leicht aus, der Bohrer läuft scheinbar mühelos in die schwierigsten Materialien. Steuerungstechnik sowie Elektronik und Antriebstechnik leisten dabei aber Großes.“ Im Prinzip, so Jens Sölter, registriert die Magnetlagerung der Spindel, wie hoch gerade die Kraft sein muss, um den Span gerade brechen zu lassen – ohne dabei die Schneide außer Eingriff kommen zu lassen. „Der Span bricht quasi freiwillig. Die Schneide folgt aber weiter dem vorauseilenden Riss und muss damit nicht neu ins Material eintauchen.“ Das, so Jens Sölter, dürfte einer der Hauptgründe sein, warum auch die Standzeit der Bohrwerkzeuge so gigantisch gut ist. Zahlen nennt dazu Eckhard Berthold: „Wir können in Titan und Stahl rund 40 bis 50 Bohrungen machen, bevor der Bohrer das erste Mal nachgeschliffen werden muss.“

Foto: Harald Klieber Der Beweis: Nach dem Vibrationsbohren mit der horizontal installierten Keba-Spindel liegen nur kurze, sehr gleichmäßige Späne auf dem weißen Papier.

Minimaler Werkzeugverschleiß in maximal problematischen Werkstoffen

Andere Spindelkonfigurationen könnten diese Standwege unmöglich realisieren. „Und wenn Sie jetzt die Prozesszeiten von 4 min gegenüber 12 min mit herkömmlichen Spindeln betrachten, wissen Sie, warum wir in punkto Titan- und Verbundmaterialbearbeitung ganz nah mit der Luftfahrtindustrie kooperieren. In Summe vereinen wir mit dem Vibrationsbohren minimalen Werkzeugverschleiß mit superkurzen Prozesszeiten und Spänen – und das in maximal problematischen Werkstoffen.“ Nur die Investitionen, so Bernhard Karpuschewski, von derzeit noch rund 100.000 EUR für die Spindel samt software-seitiger Implementierung wird die Anwendung wohl bis auf weiteres auf wirkliche Spezialitäten und Serieneinsätze konzentrieren.

Radial- und Axialregler lassen sich perfekt trainieren

„Das technologische Potenzial ist bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Denn die Oszillation der Spindel lässt sich nicht nur sinusförmig modifizieren in ihren Vor- oder Zurückbewegungen. Es lassen sich mittlerweile auch schon Rechteckformen erzeugen!“ Machbar sei dies, so Jens Sölter, vor allem mit der Lage-Reglertaktung im µs-Bereich. „Was damit tatsächlich machbar ist, wird sich in den nächsten Projekten zeigen“, verspricht Bernhard Karpuschewski. Denn die regelungstechnische Beherrschung von Massen sei zwar nicht trivial, aber eben durch die in der Keba-Spindel verbauten Radial- und Axialregler, die sich heute schon perfekt trainieren lassen, richtig gut in den Griff zu kriegen.   

Foto: Harald Klieber Rechts die schöne, vibrationsgebohrte Bohrungswandung, links deutliche Riefen nach dem konventionellen Bohren.
Foto: Harald Klieber Viele Versuche hat das IWT seit 2015 bereits mit den Vibrationsspindeln von Keba gefahren und ausgewertet. Ergebnis: Vibrationsbohren eröffnet nicht nur für serienmäßige Aerospace-Anwendungen ein riesiges Optimierungspotenzial.
Foto: Harald Klieber Innen sind schöne, glatte Bohrungen: Mit der vierten Spindel-Generation von Keba lassen sich auch in schwer zerspanbare Materialen lange Bohrungen von 60xD einbringen, die trotzdem sehr hohe Oberflächengüten aufweisen.
Foto: Harald Klieber Dass es sich um schöne, tiefe Bohrungen handelt, zeigt sich spätestens im letzten Bild…
Foto: Harald Klieber …60xD hat der Bohrer hier zurückgelegt. 

Die Testergebnisse am IWT

Das IWT hat umfangreiche Tests über die Spanbildung beim konventionellen und vibrationsunterstützten Bohren durchgeführt: Ein unbeschichteter, 2-schneidiger 4,8-mm-VHM-Bohrer (Gühring) bohrte ins volle Ti6Al4V (3.7164) mit 20 m/min vc und 0,075 mm f auf einer Schmid-ODU-Werkzeugmaschine, gekühlt mit Fettalkohol durch ein 6-bar-iMMS-System. Beim konventionellen Bohren gab es 10 mm lange Späne, Prozesstemperaturen von bis zu 126°C, einen unschönen Grat von 1 bis 2 mm am Bohrungsaustritt und relativ viel, sehr deutlich sichtbaren Werkzeugverschleiß nach 340 mm Standweg. Kaum sichtbarer Werkzeugverschleiß dagegen beim Bohren mit Vibration, deren Frequenz *Fs das IWT mit 1,5 Schwingungen pro Umdrehung bei einer Amplitude *A von 0,115 mm angibt. Außerdem hinterließ das Vibrationsbohren so gut wie keinen Grat am Bohrungsausgang, die Späne waren durchgängig rund 2 mm lang, die Prozesstemperatur ging nicht über 61°C. Ähnliche Ergebnisse beim Tieflochbohren: Im Vergleich keine langen Wendelspäne, sondern kurze, rund 2 mm lange Späne. Das Geheimnis, so Prof. Bernhard Karpuschewski, liegt natürlich in der erzeugten Vibrationsbewegung der Spindel, die mit den rund 1,5 Schwingungen pro Umdrehung das Brechen der Späne ideal unterstützt. „Was genau beim Vibrationsbohren passiert, sieht man übrigens wunderbar in der Simulation, die wir mit der Software Abaqus erstellt und genutzt haben. Wir konnten mit der Modifikation der Schwingungsbewegung die maximale Vorschubkraft in Z von 920 N auf 730 N reduzieren – was sich natürlich im Verschleiß des Werkzeugs sehr deutlich bemerkbar gemacht hat.“