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Foto: Siemens
Bearbeitung eines Motorengehäuses (Bild 1). 

Steuerungen + Software

Industrial Apps ermöglichen Produktivitätsgewinne

Schnell installiert und einfach zu bedienen helfen Industrial Apps, Daten aus Maschinen zu sammeln, zu analysieren und so Produktivitätsgewinne zu erzielen.

Mit Industrial Apps lassen sich Daten aus Maschinen sammeln und Produktivitätsgewinne erzielen. Solche Apps kennt man aus unseren Smartphones als unverzichtbare Helfer in Form von Uhren, Fitness-Trackern, Wetterfröschen, Banking, Terminkalendern, Navigation und vieles mehr. Eine Software für alles wäre wohl unbedienbar, aber verteilt auf spezialisierte Apps sind Installation und Bedienung bequem und einfach. Und: Jeder nimmt sich, was er braucht. Ganz ähnlich funktioniert Siemens Industrial Edge für die Werkzeugmaschinenbranche mit den dazugehörigen Edge Apps. Mit der CNC-Maschine und Sensoren vernetzte Industrial Edge Devices stellen hochfrequente Prozess- und Maschinendaten bereit, die dann von einfach zu bedienenden Apps genutzt und analysiert werden. Mit dem Einsatz von Edge Computing für Datenerfassung, Datenkommunikation und Datenverarbeitung bleibt die Steuerung zudem unbelastet und somit immer hochpräzise. 

Prozessbegleitende Qualitätskontrolle per App

Ein Beispiel aus der Praxis: Die Teile eines Motorengehäuses (Bilder 1 und 2) werden in einem Bearbeitungszentrum erstellt, inklusive der Gewindebohrungen zur späteren Fixierung. Ein vergleichsweise einfacher Prozess, der aber eine aufwändige, manuelle Nachprüfung der Gewindequalität mittels Gewindelehre nach sich zieht. Das bringt den Fertiger in eine Zwickmühle. Wegen der aufwändigen manuellen Prüfung will man in der Qualitätssicherung gern mit Stichproben arbeiten. Gleichzeitig aber drohen in der Endmontage hohe Kosten, wenn einzelne Gewinde nicht passen – was eine Prüfung aller Gewindebohrungen sinnvoll erscheinen lässt.

Was also tun? Hier eröffnet Edge Computing mithilfe der Analyse von Prozessdaten einen neuen Lösungsweg. Aber klingt Datenanalyse nicht aufwändig, zeitraubend und verlangt Experten? Nicht mit der passenden App – in diesem Falle „Analyze My Workpiece/Monitor“. Diese App erkennt während der Zerspanung signifikante Abweichungen vom Normalprozess und leistet so eine automatisierte Überwachung. Dabei kommen komplexe, statistische Verfahren zum Einsatz. Aber diese Komplexität bleibt für den Nutzer weitgehend unsichtbar. Programmier- oder Statistikkenntnisse sind für den Einsatz der App nicht erforderlich. Stattdessen wird der Anwender über einen Dialog dazu angeleitet, aus Gut-Bearbeitungen ein Referenz- oder Überwachungsmodell des Prozesses zu erstellen. So wird die App angelernt und ein Überwachungsmodell auf Basis statistischer Methoden erstellt.

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Foto: Siemens
Die Motorabdeckung mit den Gewindebohrungen ist ein Beispiel, bei dem mit Industrial Apps Produktivitätsgewinne bei der Bearbeitung möglich sind (Bild 2).  

Manuelle Prüfung auf wenige Teile beschränkt

Jede Bearbeitung in der Serie wird dann von der App „Analyze My Workpiece/Monitor“ mit dem Überwachungsmodell verglichen. Verlassen Parameter das ermittelte Prozessfenster, alarmiert die App. So können etwa Schwankungen beim Spindeldrehmoment auf Fehler hinweisen. In unserem Praxisbeispiel entdeckt die Prozessüberwachung auf diesem Wege möglicherweise fehlerhafte Gewinde. Die Ursache liegt außerhalb der CNC-Bearbeitung: Ursache sind Positions- und Geometriefehler an den für die Gewinde vorgesehenen Kernlöchern in den Gussrohteilen. Dennoch entdeckt die App anhand des Vergleichsmodells die Anomalien und mögliche Schlecht-Teile und nur diese Werkstücke müssen dann gezielt mit der Gewindelehre geprüft werden. Der große Vorteil: Die aufwändige manuelle Prüfung wird auf wenige Werkstücke beschränkt und dennoch werden über die App 100 % aller Werkstücke prozessbegleitend und ohne jeden Zusatzaufwand einer Qualitätsprüfung unterzogen. Bei den oben genannten Gehäuseteilen bedeutete dies konkret Einsparungen von einem mittleren vierstelligen Euro-Betrag pro Jahr und Schicht.

Produktivitätsgewinne erzielen

Völlig andere Möglichkeiten bietet die App „Analyze My Workpiece/Toolpath“. Sie zielt nicht auf eine prozessbegleitende Datenanalyse, sondern ermöglicht es über eine kombinierte Visualisierung von Werkzeugwegen und Prozessdaten, bereits vermeintlich stabile Bearbeitungsprozesse weiter zu optimieren (Bild 3). Im Mittelpunkt stehen die häufig in der Fertigung auftretenden Fragen: Sind meine Oberflächen bereits optimal? Kann ich noch schneller Fräsen?

Die App stellt die Werkzeugbahnen einer Bearbeitung dar. Außerdem werden an jedem Punkt verschiedenste Prozessparameter eigener Wahl, deren Relation zueinander und sogar der Bezug zum NC-Programm visualisiert. Welche Daten visualisiert werden sollen, lässt sich bei Bedarf mit wenigen Klicks verändern. So kann der Anwender intuitiv und explorativ vorgehen, um Ansatzpunkte für Optimierungen zu ermitteln. Und es geht weiter: Künftig soll eine über künstliche Intelligenz gestützte automatische Erkennung von Optimierungspotenzialen unterstützen.

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Foto: Siemens
Apps ergänzen sich – die nachträgliche, detaillierte Analyse der Gewindebohrungen in „Analyze My Workpiece/Toolpath“ visualisiert die Drehmoment-Abweichungen (blau), die schon prozessbegleitend in „Analyze My Workpiece/Monitor“ erkannt wurden. Das Drehmoment ist rechts lokal erhöht und lässt sich NC-Satzgenau eingrenzen (Bild 3). 

Im Praxisbeispiel sind die Vorschübe beim Schlichten visualisiert. Schnelleres Fräsen wird rot dargestellt, weniger Vorschub wird gelb, grün oder blau angezeigt. Schon auf den ersten Blick (Bild 4 li.) zeigt die App deutlich, dass es auf den freien Flächen zu Geschwindigkeitseinbrüchen kommt – die Farbe wechselt von rot auf gelb. Diese Einbrüche kosten im Prozess nicht nur Zeit, sondern wirken auch negativ auf die Oberflächenqualität. Die klare Aufforderung an den Anwender der App: Hier kann ein schon stabiler Prozess weiter optimiert werden. Im konkreten Fall haben die Anwender die Einbrüche über den Einsatz des Sinumerik-Top-Surface-Zyklus eliminiert – erkennbar an den jetzt deutlich homogeneren roten Färbungen in den Bereichen (Bild 4 re.). „Analyze My Workpiece/Toolpath“ gibt also bereits mit den nächsten Visualisierungen das unmittelbare Feedback zur Wirkung der Optimierungsmaßnahmen. Diese Verbesserungen sind auch wirtschaftlich sehr relevant. Das Schlichten kann um 2,5 Minuten pro Werkstück verkürzt werden, bei gleichzeitig erhöhter Oberflächenqualität.

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Foto: Siemens
Durch die farbliche Visualisierung (blaue Kreise) sind in „Analyze My Workpiece/Toolpath“ Anomalien, wie Geschwindigkeitseinbrüche im Schlichtprozess, deutlich zu erkennen (li.). Die Optimierung (re.) zeigt konstantere Vorschübe – gut für die Bearbeitungszeit und gut für die Oberflächengüte (Bild 4). 

Industrial Apps verwandeln Daten in wertvolle Informationen

„Analyze My Workpiece/Monitor“ und „Analyze My Workpiece/Toolpath“ sind nur zwei Beispiele aus mehr als 70 Apps aus dem Siemens-Digitalisierungsportfolio für Werkzeugmaschinen. Beide Praxisbeispiele zeigen, wie Unternehmen mit Industrial Apps schnell, mit überschaubaren Investitionen und sehr geringen Projektrisiken in die Digitalisierung einsteigen können. Dabei kann schrittweise vorgegangen werden. Sowohl die Industrial-Edge-Infrastruktur wie auch die Apps können eng am Bedarf, flexibel und schrittweise eingeführt werden. Die Investition in Edge Computing macht sich zudem mit jeder App, die darauf zusätzlich läuft, erneut bezahlt.

Statistische Verfahren, Modellentwicklung, Echtzeit-Datenanalyse oder die smarte visuelle Zusammenführung von Werkzeugwegen und Prozessdaten – wie die Beispiele zeigen, erledigen die Softwarehelfer rechenintensive und komplexe Aufgaben. Gleichzeitig aber sind sie so entwickelt, dass alles leicht bedienbar und immer wieder nutzbar bleibt. So ziehen die Anwender schnell den gewünschten Mehrwert aus den Daten. In den genannten Beispielen sind dies eine engmaschige Qualitätskontrolle und eine Optimierung von Bearbeitungszeit und Oberflächenqualität. Andere Apps zielen auf eine effizientere Wartung, Werkzeugmanagement oder KPI-Berechnungen. Zudem können Entwickler oder Anwender auch eigene Apps programmieren und implementieren. So verfolgt der Einsatz jeder Industrial Edge App klare Zielrichtungen und macht sich schnell bezahlt.

Oliver Eckstein und Christian Meltzer