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Gepulster KSS reduziert Schwingungen von lang auskragenden Bohrstangen. Hier der erste Ansatz im Forschungsprojekt KSS-Puls.
Foto: IFW Hannover
Gepulster KSS reduziert Schwingungen von lang auskragenden Bohrstangen. Hier der erste Ansatz im Forschungsprojekt KSS-Puls.

THEMA DER WOCHE 35/2022

Funktionieren lange Bohrstangen ohne Schwingungen?

Lang auskragende Bohrstangen weisen eine erhöhte Schwingungsanfälligkeit auf. Das IFW Hannover daher eine neue Methode zur Schwingungsdämpfung erforscht.

Für die Drehbearbeitung tiefer Konturen ist die Verwendung von Bohrstangen industrieller Standard. Durch die hohe Auskraglänge einer für die Bearbeitung tiefer Konturen notwendigen Bohrstange, ist diese besonders schwingungsanfällig. Eine hohe Schwingungsanfälligkeit begünstigt bereits bei niedrigem Vorschub und geringer Schnitttiefe instabiles Prozessverhalten (Rattern). Um Rattern zu vermeiden, müssen Schnitttiefe und Vorschub reduziert sowie der größtmögliche Bohrstangen-Durchmesser verwendet werden. Ein bisher ungenutztes Potential liegt im häufig verwendeten Kühlschmierstoff (KSS). Aus diesem Grund erforscht die TAM Tools GmbH (Goldberg) in Kooperation mit dem Institut für Fertigungstechnik und Werkzeugmaschinen (IFW) im Forschungsprojekt „KSS-Puls“, inwiefern durch die Bohrstange geleiteter KSS zur Schwingungsminderung verwendet werden kann. Das entwickelte Konzept ist in Bild 1 für einen Innenlängsdrehprozess dargestellt. Statt eines konstanten KSS-Volumenstroms (oben), werden Druck und Volumenstrom zeitlich variiert (unten). Das Öffnen und Schließen eines KSS-Ventils führt zu einer Änderung des Volumenstroms der auf zwei Weisen eine Kraft auf Bohrstange ausübt. Zum einen entsteht eine Rückstoßkraft Fr am Austritt der Bohrstange, zum anderen wird auf die Wand der Austrittsbohrung eine Prallkraft Fkss ausgeübt. Anteile der beiden Kräfte wirken in dieselbe Richtung wie die Passivkraft Fp.

Auf die richtige Systemabstimmung kommt es an

Die Herausforderung bei der Entwicklung des Pulsationssystems liegt darin, die aus der Pulsation entstehende Kräfte auf eine Weise mit der Passivkraft des Prozesses so zu überlagern, dass eine destruktive Interferenz entsteht. Eine optimale Überlagerung ist allerdings nicht zwangsläufig ausreichend, um eine hinreichend hohe Schwingungsdämpfung zu erzeugen, wenn die Kräfte der Pulsation (Fkss und Fr) im Verhältnis zu der Passivkraft klein sind. Aus diesem Grund wird, neben einer Methode zur Überlagerung der Kräfte, an der Maximierung der in x-Richtung wirkenden Kraftkomponenten der Kräfte Fr und Fkss geforscht. In diesem Artikel wird diesbezüglich die Ausgangslage und das Forschungspotenzial dieses Konzepts dargestellt.

Erste Versuche zeigen hohes Forschungspotenzial

Zur Identifikation des Forschungspotenzials, wurden durch die Projektpartner die im Nachfolgenden beschriebenen Versuche durchgeführt. In Bild 2 ist der entsprechende Versuchsaufbau dargestellt. Um die Wirkung der Pulsation ohne Störeinflüsse beurteilen zu können, wurde zunächst kein Werkstück bearbeitet. Der Versuchsaufbau wurde in ein Dreh-Fräs-Zentrum vom Typ CTX 520 der Gildemeister Drehmaschinen GmbH integriert. Mit einem vom IFW hinzugefügten KSS-Hochdrucksystem ist es möglich, Drücke bis 140 bar zu erzeugen. Über einen Drucksensor vom Typ PA3022 der ifm GmbH wurde der Fluiddruck und über eine Kraftmessplattform (KMP) vom Typ 9129 der Kistler Instrumente GmbH die Prozesskräfte gemessen, welche auf einem Industrie-PC (IPC) der Beckhoff Automation GmbH & Co. KG verarbeitet wurden. Ebenso diente der IPC der Steuerung des 4/3 Wegeventils der Jos. Schneider Optische Werke GmbH. Mit diesem wurde in den Versuchen der KSS über ein Rechtecksignal mit Frequenzen zwischen 1 und 50 Hz gepulst. Die Druckamplitude wurde indirekt durch Einstellung der Pumpendrehzahl zwischen 35 und 100 bar variiert. Da das Werkzeug auf die KMP montiert wurde, konnte die Summe der Kräfte in X-Richtung durch diese gemessen werden.

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Versuchsaufbau der KSS-Puls-Vorversuche in einer CTX 520: Mit einem vom IFW hinzugefügten KSS-Hochdrucksystem ist es möglich, Drücke bis 140 bar zu erzeugen.
Foto: IFW Hannover
Versuchsaufbau der KSS-Puls-Vorversuche in einer CTX 520: Mit einem vom IFW hinzugefügten KSS-Hochdrucksystem ist es möglich, Drücke bis 140 bar zu erzeugen.

Versuchsaufbau der KSS-Puls-Vorversuche in einer CTX 520

Die Ergebnisse dieser Versuche sind beispielhaft für eine Frequenz von fkss = 1 Hz und einen Druck von ps = 100 bar in Bild 3 dargestellt. Zu sehen sind der Soll- und der vom Drucksensor gemessene Ist-Druckverlauf in den oberen beiden Diagrammen sowie die von der KMP gemessene Kraft in den unteren beiden Diagrammen. In den linken Diagrammen ist der Zeitbereich zwischen 0 und 6 s dargestellt, während die rechten Diagramme die vergrößerten Ausschnitte zwischen 0,5 und 0,6 s zeigen. Im linken oberen Bild sind Frequenz und Amplitude des Soll-Druckverlaufs (schwarz) und des Ist-Druckverlaufs (grün) zu sehen. In dieser Darstellung erscheint die Wirkung der Druckänderung synchron zu erfolgen. Die Betrachtung der vergrößerten Zeitskala zeigt im Diagramm rechts oben jedoch eine zeitliche Verzögerung von 14,5 ms zwischen der aufgegebenen und der gemessenen Druckänderung. Der Grund hierfür ist die Schaltverzögerung des Ventils. Im Diagramm unten links ist zu erkennen, wie der in Orange dargestellte gleitende Mittelwert der Kraft dem Rechtecksignal der Anregung folgt. Aus dem rechten Diagramm hingegen kann die Erkenntnis gewonnen werden, dass das Maximum von Fz = 40 N des in blau eingezeichneten Rohsignals der Kraft Fz mit einer Verzögerungszeit von 5 ms nach dem gemessenen Ist-Druck-Maximum auftritt. Diese Zeit benötigt der KSS, um den Abstand zwischen Drucksensor (am 4/3 Wegeventil) und Kraftsensor (am Drehmeißel) zu überwinden. Die maximale Kraft Fz ist, ebenso wie das Signalrauschen des Kraft- und Drucksignals, abhängig von der Frequenz. Die Schaltverzögerung tritt mit gleichem Absolutwert auch bei höheren Frequenzen auf, bei welchen sie aufgrund der geringeren Periodendauer einen höheren relativen Anteil besitzt. Hieraus resultiert bei steigender Frequenz eine sich vergrößernde Differenz zwischen Ist-Druck und Solldruck. Für die spätere Regelung sind diese Effekte somit besonders relevant, da sie unmittelbaren Einfluss auf die zu entwickelnde Regelungsstrategie haben. Ein wesentlicher Inhalt des Projektes liegt daher auf der Optimierung des dynamischen Systems zwischen der Impulseinbringung und dem resultierenden Effekt nahe dem TCP.

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Versuchsergebnis der Vorversuche: Durch erste Versuche wurde die Einbringung einer gezielten Kraft auf den Drehmeißel durch Pulsation von Kühlschmierstoff nachgewiesen.
Foto: IFW Hannover
Versuchsergebnis der Vorversuche: Durch erste Versuche wurde die Einbringung einer gezielten Kraft auf den Drehmeißel durch Pulsation von Kühlschmierstoff nachgewiesen.

Fazit und Ausblick

In diesem Artikel wurde ein neuartiges Konzept zur Schwingungsreduzierung lang auskragender Bohrstangen mit Hilfe von gepulstem Kühlschmierstoff vorgestellt. Durch erste Versuche wurde die Einbringung einer gezielten Kraft auf den Drehmeißel durch Pulsation von Kühlschmierstoff nachgewiesen. Die erzielte Kraft Fz = 40 N kann bereits jetzt, ohne Optimierungsmaßnahmen, als vielversprechend bewertet werden. Durch das identifizierte Übertragungsverhalten wird gleichzeitig jedoch auch Optimierungsbedarf deutlich. Im weiteren Projektverlauf werden diese Versuchsergebnisse als Randbedingung in der Optimierung der Bohrstange und in der Grundlage der Optimierung des Pulsationssystems verwendet, sodass das Pulsationssystem zukünftig hinsichtlich möglichst hoher Frequenzen und Kraftamplituden betrieben werden kann.

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Neuartiges Konzept zur Schwingungsreduzierung lang auskragender Bohrstangen mit gepulstem Kühlschmierstoff: Erste Versuche konnten die Einbringung einer gezielten Kraft auf den Drehmeißel durch Pulsation von Kühlschmierstoff nachweisen.
Foto: ifw hannover
Neuartiges Konzept zur Schwingungsreduzierung lang auskragender Bohrstangen mit gepulstem Kühlschmierstoff: Erste Versuche konnten die Einbringung einer gezielten Kraft auf den Drehmeißel durch Pulsation von Kühlschmierstoff nachweisen.

Das Forschungsprojekt ‚KSS-Puls – Entwicklung eines aktiv gedämpften Werkzeughalters für einen Innenausdrehprozess mittels eines gepulsten Kühlschmiermittel-Strahls‘ (Fördernummern KK5295401KX1 und KK5032707KX1) wird gefördert durch das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages im Rahmen des Zentralen Innovationsprogramms Mittelstand (ZIM) und von der Arbeitsgemeinschaft industrieller Forschungsvereinigungen Otto von Guericke (AiF) betreut. Das IFW und der Kooperationspartner TAM Tools GmbH bedanken sich für die finanzielle Unterstützung in diesem Projekt.